Im Zuge des Dialogprozesses und des nunmehr dritten Workshops kristallisieren sich für die DGPPN zwei Hauptaspekte heraus, die für eine konsequente Umsetzung einer leitlinien- und bedarfsgerechten Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen unumgänglich sind: sektoren- bzw. SGB-übergreifende Komplexleistungen sowie eine angemessene Personalausstattung. Nur unter diesen Prämissen können die untenstehenden Empfehlungen umgesetzt werden. Der Gesetzgeber ist aufgerufen, dafür Sorge zu tragen.
1. Psychisch kranke alte Menschen und psychisch kranke Menschen mit Pflegebedarf
Depressive Störungen und Demenzerkrankungen sind die häufigsten psychischen Störungen im Alter. Sie sind folgenschwer, für den Einzelnen, die pflegenden Angehörigen, aber auch für die Solidargemeinschaft im Sinn von Gesundheitskosten. Aufgrund der demographischen Entwicklung mit einer wachsenden Zahl von Senioren werden sie zu einer drängenden Versorgungsherausforderung. Sowohl die Diagnosestellung als auch die Versorgung gerontopsychiatrischer Erkrankungen werden aktuell als qualitativ und quantitativ unzureichend eingeschätzt. Viele psychisch kranke alte Menschen werden von pflegenden Angehörige in der Häuslichkeit versorgt. Pflegende Angehörige haben selbst aufgrund ihrer Belastung ein erhöhtes Risiko z. B. für Depressivität und Schlafstörungen. Die Stabilität von Pflegearrangements hängt maßgeblich von der Gesundheit der pflegenden Angehörigen ab.
Dringender Bedarf besteht hinsichtlich:
2. Psychisch kranke Kinder und Jugendliche (Schnittstellenthemen)
a. Finanzierung und Krankenhausplanung
Der Gesetzgeber ist zu strukturellen Umgestaltungen aufgerufen, um kooperative Versorgungsstrukturen und Kooperationsnetzwerke zu etablieren, die den Spezifika des Transitionsalters (15-25 Jahre) Rechnung tragen (SGB V). Zudem sollte auch vor dem Hintergrund einer gelingen-den Transitionspsychiatrie die sektorenübergreifende Versorgung weiter vorangetrieben werden, um Therapieabbrüche beim Übergang zwischen den Behandlungssettings zu reduzieren.
Ambulanter Bereich:
Stationärer Bereich:
Komplementäre Hilfesysteme:
b. Forschung
Im Detail müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden:
c. Menschen mit ersten Kontakten zum psychiatrischen Hilfesystem
Die Versorgung von Menschen mit ersten Kontakten zum psychiatrischen Hilfesystem beansprucht mehr und spezifische Ressourcen im Vergleich zu psychisch kranken Menschen, die sich schon länger in Behandlung befinden und mit dem Versorgungssystem vertraut sind. Sie benötigen mehr Informationen über das Versorgungsangebot, die Diagnostik ist umfänglicher, die Beziehungsgestaltung erfordert mehr Zeit, und die Aufklärung über und die Motivation zur Aufnahme einer Behandlung ist aufwändiger.
Auch Angehörige und Bezugspersonen müssen intensiver und spezifisch am Anfang der Erkrankung einbezogen werden.
Das Risiko des Verlustes des Kontaktes zum Versorgungssystems ist in den ersten 5 Jahren der Erkrankung wesentlich größer als im späteren Krankheitsverlauf. Darüber hinaus sind die ersten 5 Jahre der Behandlung nach Erstdiagnose ein wesentlicher Prädiktor für den Gesamtverlauf psychischer Erkrankungen. Eine gegenüber der Standardbehandlung spezifische und intensivere Behandlung in dieser Phase kann den Gesamtverlauf verschiedener psychischer Erkrankungen verbessern (z. B. Correll et al., 2018) und wird deshalb z. B. in der DGPPN S3-Leitlinie psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Störungen (DGPPN, 2019a) und der S3-Leitlinie zu schizophrenen Störungen (DGPPN, 2019b) empfohlen.
Aufgrund dieser Evidenzlage ergibt sich folgender Handlungsbedarf:
3. Psychosomatisch erkrankte Menschen
In Deutschland existieren rund 11.500 Betten der Psychotherapeutischen Medizin/Psychosomatik in Krankenhäusern sowie rund 18.000 Betten der Psychotherapeutische Medizin/Psychosomatik in Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen (Statistisches Bundesamt, 2018a). Bislang nehmen diese Kliniken kaum oder überhaupt nicht an der Akutversorgung teil. Gleichzeitig ist über die letzten Jahre zu beobachten, dass die Kapazitäten in der Psychosomatik erheblich ausgebaut wurden (2007: 5.784 Betten; 2017: 11.410), während die Kapazitäten in der Psychiatrie im selben Zeitraum kaum ausgeweitet wurden (2007: 53.169; 2017: 56.223).
Darüber hinaus wird in der Psychosomatik lediglich ein Teil der psychisch erkrankten Patienten behandelt und insbesondere schwerer Kranke (z. B. suizidale Patienten) werden häufig abgewiesen. Auch stellen Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen nur einen geringen Teil der Diagnosen in den psychosomatischen Kliniken dar; die meisten Patienten weisen depressive Störungen auf (Statistisches Bundesamt, 2018b).
Die DGPPN spricht sich gegen die Etablierung von Doppelstrukturen in der psychiatrisch-psychosomatischen Versorgung und damit gegen eine Ausweitung von psychosomatischen Betten ohne eine lokale gemeindenahe Versorgungsorientierung aus. Vielmehr wird folgender Handlungsbedarf gesehen:
4. Menschen mit zusätzlicher körperlicher oder geistiger Behinderung
Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Angebote aller Versorgungssektoren müssen grundsätzlich in zwei Richtungen entwickelt werden: Das Regelversorgungssystem muss sich mehr als bisher als erster Ansprechpartner von Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen verstehen und darauf sowohl in fachlicher als auch in struktureller und organisatorischer Hinsicht vorbereiten (DGPPN, 2019c). Für situative Konstellationen und regionale Situationen, die die fachlichen und organisatorischen Möglichkeiten des Regelversorgungssystems tatsächlich überfordern, müssen ergänzende zielgruppenspezifische Spezialangebote für größere Versorgungsregionen vorgehalten werden. Sie sind mit dem Regelversorgungssystem aufs engste zu vernetzen.
Konkret ergeben sich folgende Handlungsoptionen:
5. Selbst- oder fremdgefährdendes bzw.- verletzendes Verhalten, Suizidprävention
a. Selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten
Alle Maßnahmen, die geeignet sind, Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen psychisch erkrankten Menschen, Angehörigen und Professionellen zu verbessern, entfalten eine generalpräventive Wirkung bezüglich aggressiven und gewalttätigen Verhaltens. Dazu gehören:
Die spezifischen Maßnahmen sind der S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ zu entnehmen (DGPPN 2018). Indirekt gewaltpräventiv wirkt auch ein dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechendes therapeutisches Angebot. Träger psychiatrischer Einrichtungen sollen deshalb dafür Sorge tragen, diese Maßnahmen bzw. Verfahren zu realisieren. Dies betrifft sowohl Kliniken als auch gemeindepsychiatrische Einrichtungen. Eine quantitativ und qualitativ ausreichende Personalausstattung ist unverzichtbar, um diese Maßnahmen zu gewährleiten und sollten daher sichergestellt werden.
b. Suizidalität
Suizidalität ist ein Ausdruck aktueller Not. Daher ist im Rahmen der Reform der Notfallversorgung dringend Sorge dafür zu tragen, dass in allen Strukturen des neuen Systems, also Gemeinsame Notfallleitstellen, Notfallrettung und Integrierten Notfallzentren, ausreichend psychiatrische Kompetenz vorgehalten wird, um diese Notfälle erkennen und behandeln zu können.
Zudem sieht die DGPPN bei der Suizidprävention folgenden Handlungsbedarf:
Auf der personenbezogenen Ebene (Mental-Health-Ansatz):
Eine weitere wichtige Forderung an die Gesundheitspolitik und Fürsorge ist die Verhinderung des Zugangs zu Suizidmitteln und -hotspots, z. B. durch Verschalung von Brücken, von Eisenbahnlinien, von Türmen, die jeweils als Suizidmethode verwendet werden können. Des Weiteren ist die suizidologische Forschung durch die Förderung entsprechender Projekte zu verbessern und voranzutreiben.
6. Psychisch kranke Menschen mit versorgungspflichtigen Angehörigen, psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit einer Geburt
Psychiatrische Kliniken und Vertragsärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sollten sich verstärkt in die interdisziplinäre Versorgung von Familien mit psychisch erkrankten Eltern einbringen.
Psychiater sollten krankheitsbedingte Einschränkungen der elterlichen Erziehungs- und Beziehungskompetenzen erkennen (Funktionsdiagnostik) und spezifische Unterstützungs- und Hilfsangebote – ggfs. bereits vom Krankenhaus aus – einleiten.
Daraus ergeben sich folgende Handlungsfelder für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil:
7. Regionale Grundversorgung versus Spezialisierung
Die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung umfasst allgemeine, störungsübergreifende Elemente sowie störungsorientierte oder -spezifische Module. Die Behandlung soll grundsätzlich und vorrangig wohnort- bzw. gemeindenah erfolgen, da die PatientInnen möglichst in ihrem sozialen Umfeld integriert bleiben und die Bezugspersonen bedarfsgerecht in die Behandlung einbezogen werden sollen. Das Primat der Gemeindenähe bzw. Gemeindeintegration ist insbesondere wichtig bei der Behandlung derjenigen PatientInnen, die einen rezidivierenden oder chronischen Verlauf ihrer Erkrankung aufweisen. Seine Grenze findet dieses Primat bei PatientInnen, bei denen eine spezialisierte, nicht vor-Ort verfügbare stationäre oder teilstationäre Behandlung für einen bestimmten Zeitraum indiziert ist. Die Therapie soll in diesen Fällen in einem angemessenen Wechsel von spezialisierter und basisorientierter Versorgung, je nach individuellem Krankheitsverlauf, stattfinden.
Gemeindenahe Versorgung und Spezialisierung sollen somit aus Sicht der DGPPN nicht als gegensätzliche, sondern vielmehr als komplementäre Prinzipien der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung verstanden werden. PatientInnen mit psychischen Störungen haben ein Recht auf eine qualitativ hochwertige psychiatrisch-psychotherapeutische Basisversorgung in Wohnortnähe, sie haben aber bei vorliegender Indikation genauso ein Recht auf qualitativ hochwertige, State-of-the-Art Spezialbehandlung, die nicht immer flächendeckend angeboten werden kann. In diesem Sinne sollen Menschen mit psychischen Störungen nicht schlechter gestellt sein als somatisch Erkrankte, für die im stationären Versorgungsbereich ein System der Basis-, Schwerpunkt und Maximalversorgung selbstverständlich ist.
Die folgenden Prinzipien der Behandlungsorganisation sollen bei der Bedarfsplanung Berücksichtigung finden:
Literatur
zum Download der Stellungnahme [PDF, 244 KB]