07.12.2015 | Positionspapier

Legalisierungsdebatte des nichtmedizinischen Cannabiskonsums

Zurzeit werden vermehrt Forderungen nach einer Legalisierung von Cannabis laut. Einige Juristen, verschiedene Politiker und Parteien sowie Verbände fordern ein Umdenken in der Drogenpolitik. Die Debatte um die Legalisierung wird lebhaft geführt und von den Medien breit aufgenommen. Die DGPPN nimmt aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht Stellung zu den wichtigsten Fragen: Kann Cannabiskonsum psychische Erkrankungen auslösen? Welche Folgen hätte eine Legalisierung für das medizinische Versorgungssystem? Wo besteht Forschungsbedarf?

Die wichtigsten Erkenntnisse, Empfehlungen und Forderungen der DGPPN:

  • Jeder zehnte Cannabiskonsument entwickelt eine behandlungsbedürftige Abhängigkeitserkrankung. Cannabis ist momentan der häufigste Anlass für eine erstmalige Drogentherapie.
  • Die Komorbidität von Cannabisabhängigkeit und weiteren psychischen Störungen ist hoch.
  • Das Konsumalter ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen, wobei die größten Risiken während der Adoleszenz bestehen.
  • Es ist klinisch plausibel, aber nicht abschließend geklärt, ob Cannabiskonsum auch Psychosen bei Menschen auslösen kann, die ohne Cannabiskonsum nicht erkrankt wären.
  • Weitere Forschung zu den Risikofaktoren für die verschiedenen psychopathologischen Wirkungen von Cannabiskonsum und deren Behandlung sind notwendig.
  • Wissenschaftliche Analysen der Daten der krankenkassenärztlichen Versorgung bezüglich Prävalenz, Verlauf und Kosten von cannabisbezogenen Störungen sollten erfolgen.
  • Die strafrechtlichen Möglichkeiten zur Entkriminalisierung des Gebrauchs sollten verbessert werden. Gleichzeitig kann der Kontakt mit der Justiz auch Behandlungschancen eröffnen.
  • Eine Verschränkung von Maßnahmen der Angebotsreduzierung mit verhaltens- und ausstiegsorientierten Maßnahmen im Sinne des Mehrsäulenkonzepts – Angebotsreduzierung, Prävention, Hilfestellung und Schadensminimierung – ist sinnvoll.
  • Der Zusammenhang zwischen Liberalisierung des Zugangs zu Cannabis und der möglichen Erhöhung der Konsums- und Missbrauchsprävalenz muss weiter untersucht werden.

Einführung

In der jüngeren Zeit werden vermehrt Forderungen nach einer Legalisierung von Cannabis laut. Einige Juristen, verschiedene Politiker und Verbände fordern ein Umdenken in der Drogenpolitik. In verschiedenen Bundesländern werden Modellvorhaben zum legalisierten nichtmedizinischen Cannabiskonsum vorgeschlagen oder beantragt. Argumente hierfür sind u. a. die Entkriminalisierung der Cannabiskonsumenten und die Ungleichbehandlung der Substanzen Alkohol und Cannabis. Die Debatte um die Legalisierung wird lebhaft geführt und von den Medien breit aufgenommen.

Es ist nicht primäre Aufgabe der DGPPN, den strafrechtlichen Umgang mit Cannabis zu bewerten. Die Freigabe des Besitzes oder des Erwerbs zum eigenen Verbrauch bis zu einer festzulegenden Höchstgrenze ist vielmehr eine gesellschaftliche und rechtspolitische Frage, die entsprechend politisch entschieden werden muss. Die Aufgabe der DGPPN besteht (wie die der Ärztekammern; siehe Stellungnahmen der Bundesärztekammer 2008 und 2012) dahingegen „v. a. in der Bewertung eines möglichen medizinischen Nutzens von Cannabinoiden bzw. möglichen gesundheitlichen Schadens des Cannabiskonsums und der Folgen für das medizinische Versorgungssystem“ (BÄK 2013). Hieraus können sich wichtige Anhaltspunkte für eine politische Entscheidung ergeben.

Die vorliegende Stellungnahme bezieht sich einerseits auf mögliche Auswirkungen eines nichtmedizinischen Cannabiskonsums auf die physische und psychische Gesundheit und die Entwicklung von psychiatrischen Erkrankungen sowie andererseits auf psychiatrische Erkrankungen, die mit Cannabiskonsum vergesellschaftet sein können. Hieraus entstehende medizinethische Implikationen werden diskutiert.

Eine Bewertung eines medizinischen Nutzens von Cannabinoiden wird in dieser Stellungnahme nicht thematisiert. Diese komplexe Thematik bedarf einer gesonderten Stellungnahme.

Biologische und pharmakologische Grundlagen und Wirkstoffe

Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) ist die bedeutsamste psychotrop wirksame Substanz in Cannabis. Der Gehalt an THC ist in speziellen Hanfzüchtungen während des letzten Jahrzehnts deutlich angestiegen. Ein weiterer Wirkstoff ist Cannabidiol (CBD), dem im Gegensatz zu THC u. a. anxiolytische, antipsychotische, entzündungshemmende, antiemetische und neuroprotektive Wirkungen zugeschrieben werden. CBD hat aber keinen Effekt auf die akuten psychotomimetischen Effekte bei THC-Intoxikationen (van Winkel und Kuepper 2014). CBD ist in vielen Hanfzüchtungen häufig nicht mehr vorhanden. Dem Konsum von Cannabisprodukten mit hohem THC-Gehalt und niedrigem CBD-Gehalt werden unerwünschte Effekt zugeschrieben.

Seit einigen Jahren werden außer Cannabis auch synthetische Cannabinoide konsumiert, die z. B. teilweise auf die getrockneten Hanfblüten gesprüht werden. Diese sind in den handelsüblichen Urin-Analyse-Sticks nicht nachweisbar, sondern nur durch spezielle gaschromatographische bzw. massenspektrographische Methoden. Epidemiologische Daten zum Konsum dieser Cannabinoide in Deutschland gibt es daher nicht. Sie haben in der Regel eine wesentlich stärkere Wirkung als THC.

Epidemiologie von Konsum und Abhängigkeit

Nach Daten der Drogenaffinitätsstudie (DAS) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben 2011 4,6 % der Kinder und Jugendlichen (12 bis 17 Jahre) Cannabiskonsum in den vergangenen 12 Monaten angegeben (BZgA, 2012) und gemäß des aktuellen nationalen epidemiologischen Suchtsurveys (ESA) von 2012 4,5 % der Erwachsenen (18 bis 64 Jahre) (Kraus et al 2013, Pabst et al 2013, Orth et al 2015). Besonders häufig ist der Konsum der 18–20-Jährigen (12-Monats-Prävalenz liegt bei 16,2 %), bei jungen Erwachsenen im Alter von 15–34 Jahren 11,1 %. Ein regelmäßiger Konsum von Cannabis wird für die 12–17-Jährigen mit 1,3 % angegeben. Nach Daten der BZgA 2014 weisen 3,7 % der jungen Erwachsenen im Alter von 18–25 Jahren einen regelmäßigen Cannabiskonsum auf. Bei Personen mit erhöhter Konsumfrequenz in der Adoleszenz bleibt der Cannabiskonsum bis in das dritte und vierte Lebensjahrzehnt bestehen. Darüber hinaus sind Alkoholabhängigkeit und belastende Lebensereignisse Risikofaktoren für die Stabilität des Cannabiskonsums bis in das dritte und vierte Lebensjahrzehnt (Perkonigg A et al. 2008). Die Zahlen der BZgA (2014) zeigen eine Zunahme der Prävalenz bei der Risikogruppe der Jugendlichen. Für riskanten Alkoholgebrauch liegen die entsprechenden Werte um das 4-Fache und für regelmäßiges Tabakrauchen um das 10-Fache höher. Diese Daten sprechen gegen die Einschätzung von Cannabiskonsum als Alltagsdroge.

Etwa 1 % der Erwachsenen der Allgemeinbevölkerung erfüllen die DSM-IV-Kriterien eines Cannabismissbrauchs (0,5 %) oder einer Cannabisabhängigkeit (0,5 %, 2,3 % bei Erwachsenen im Alter von 25–29 Jahren) (Orth et al 2015). Im Vergleich dazu liegen höhere Prävalenzraten für Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit (3,1 % beziehungsweise 3,4 %) und Nikotinabhängigkeit (10,8 %) vor. Die Abhängigkeit von anderen illegalen Substanzen, z. B. von Amphetamin oder Kokain (0,2 % und 0,3 %), ist seltener. Etwa 9 % aller Cannabiskonsumenten entwickeln über die Lebenszeit eine Cannabisabhängigkeit. Diese Rate beträgt 17 %, wenn der Cannabiskonsum in der Adoleszenz beginnt und 25–50 %, wenn Cannabis täglich konsumiert wird (Hoch et al. 2015). Die Gesamtzahl der Suchtbehandlungen aufgrund von Cannabiskonsum nimmt in Europa und den USA zu. Dies trifft nach Expertenmeinung von psychiatrisch tätigen Klinikern auch für Deutschland zu.

In den letzten Jahren stellen sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich der Suchtkrankenhilfe Patienten mit Störungen aufgrund des Konsums von Alkohol, Opioiden und Cannabis die drei größten Diagnosegruppen dar. Die Daten stammen aus einer Gelegenheitsstichprobe, hauptsächlich von Beratungs- und Rehabilitationsbehandlungen. Zahlen aus der vertragsärztlichen Versorgung sind nicht bekannt. Nach dem Kerndatensatz der Suchthilfe sind Störungen aufgrund des Konsums von Alkohol die häufigste Hauptdiagnose (ambulant: 53 %, stationär: 73 %); von Opioiden (ambulant: 16 %, stationär: 7 %) und von Cannabis (ambulant: 14 %, stationär 6,3 %). Fast jeder fünfte ambulante Klient mit einer primären Cannabisproblematik weist zusätzlich einen schädlichen Gebrauch oder eine Abhängigkeit von Amphetaminen auf (ambulant 18,8 %, stationär 49,8 % ) bzw. fast jeder zehnte Klient einen schädlichen Gebrauch oder eine Abhängigkeit von Kokain (ambulant 9,1 %, stationär 23,1 %). 27 % (ambulant) und 46 % (stationär) dieser Klienten erfüllen zudem die diagnostischen Kriterien einer alkoholbezogenen Störung. Außerdem gibt ein beträchtlicher Anteil pathologischer Glücksspieler nach Daten der Suchthilfestatistik von 2012 auch den Konsum von Cannabis an (ambulant 5 %, stationär 14 %) (Pfeiffer-Gerschel et al 2011, Steppan et al 2014). 

Aus diesen Daten wird deutlich, dass mindestens 10 % der Konsumenten von Cannabis eine behandlungsbedürftige Abhängigkeitserkrankung entwickeln und dass ein relativ hoher Prozentsatz darüber hinaus ein oder mehrere zusätzliche komorbide Suchterkrankungen aufweist. Die Gefahren der kombinierten Suchterkrankungen sind noch unzureichend untersucht und werden häufig besonders hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf psychische Symptome zu wenig beachtet. Im Falle von gleichzeitig bestehendem Konsum von Alkohol und Cannabis kann sich z. B. das Risiko einer Leberzirrhose erhöhen. Neuere Untersuchungen von Hepatologen unterstreichen die Gefahr, die bei gleichzeitiger Zufuhr von Cannabis und Alkohol entsteht. Die Leber besitzt wie das Gehirn zwei Cannabinoid-Rezeptoren, den CB1- und den CB2-Rezeptor. Aktivierung des CB1-Rezeptors durch THC führt zu einer Steigerung der Fibrogenese in der Leber, während die Aktivierung von CB2-Rezeptoren dem entgegen wirkt. Chronische Alkoholzufuhr stimuliert den CB1-Rezeptor wahrscheinlich über das Alkoholabbauprodukt Azetaldehyd, was dann in der Gegenwart von Cannabis zur Fibrose und Zirrhose führen kann. Dies konnte im Tierexperiment (Trebicka et al 2011) als auch beim Menschen (Patsenker et al 2011) nachgewiesen werden. Dies kann Alkohol und Cannabis zu einer gefährlichen Kombination machen. Entsprechende Untersuchungen bezüglich der psychischen Auswirkungen gibt es nicht.

Darüber hinaus ist Cannabiskonsum in Deutschland zumeist mit Tabakkonsum assoziiert. Insofern sind beim Cannabiskonsumenten auch tabakrauchspezifische Folgeerkrankungen zu erwarten. Unklar ist die direkte Risikosteigerung für Lungenerkrankungen durch Cannabis (Biehl & Burhan 2015). Beschrieben werden auch kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Risiken, die nicht auf den begleitenden Zigarettenkonsum zurückzuführen sind (Hodcroft et al. 2014, Thomas et al. 2014). Diskutiert wird zudem eine Risikoerhöhung für kognitive Störungen sowie psychische Erkrankungen bei einem kombinierten Konsum von Marihuana und Nikotin (Filbey et al. 2015, Cougle et al. 2015, Hoch et al. 2015).

Nicht erfasst sind in den Statistiken der Suchthilfe die behandlungsbedürftigen Cannabiskonsumenten, die wegen einer durch Cannabis induzierten akuten oder chronischen psychotischen Symptomatik, oder durch Cannabis induzierte Schizophrenie, schizoaffektiven Psychosen oder affektiven Erkrankungen ambulant oder stationär psychiatrisch behandelt werden müssen. Schizophrenie sowie die anderen genannten psychischen Erkrankungen sind komplexe Krankheiten mit einem genetischen und von der Umwelt beeinflussten Hintergrund. Die Prävalenz von Cannabiskonsum bei schizophrenen Patienten ist hoch und beträgt je nach Studie zwischen 13 % und 69 %. 

Klinische psychische Wirkungen

Die direkten Effekte von Cannabiskonsum bei Menschen sind Euphorie sowie Beeinträchtigung kognitiver Funktionen, wie Änderungen in der Perzeption der Zeit und in der Wahrnehmung, Verstärkung von sensorischen Stimuli, Verminderung der Aufmerksamkeit sowie Verschlechterung der Reaktionszeit, der motorischen Koordination und des Kurzzeitgedächtnisses. Es kann zu akuten und chronischen Intoxikationen kommen. Möglicherweise als Folge einer chronischen Intoxikation kann sich bei chronischem Gebrauch ein amotivationales Syndrom entwickeln mit schwerwiegenden psychosozialen Folgen, wie Defiziten in der Schul- und Berufsausbildung und Reifungsproblemen bei der Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben. Degenhardt & Hall haben in einer australischen Erhebung bei 1,2 % der chronischen Cannabiskonsumenten psychotische Symptome festgestellt. Die einzelnen Wirkungen hängen von der Zusammensetzung des Präparates, der Dosis, der Häufigkeit, der Applikationsform, der psychischen Situation sowie der individuellen Disposition und Konsumerfahrung ab. Die Symptome bilden sich zumeist nach Abklingen der pharmakologischen Wirkung wieder zurück, können aber auch langfristig anhalten und zu einer lebenslangen psychischen Erkrankung, wie einer Sucht- oder psychotischen Erkrankung führen. Es ist hierbei festzustellen, dass im Einzelfall ein einziger Cannabiskonsum bereits eine Psychose mit Wahnvorstellungen, Denkstörungen und anderen Symptomen auslösen kann. Hier unterscheidet sich Cannabis deutlich von anderen psychotropen Substanzen und insbesondere von den ansonsten stärkeren toxischen Wirkungen des Alkohols. Epidemiologische Studien zeigen eine konsistente dosisabhängige Assoziation von Cannabiskonsum und Psychose (van Winkel und Kuepper 2014). 

Cannabiskonsum und Psychosen

Cannabis, ähnlich wie auch Stress, ist nachweislich mitverantwortlich für die Verstärkung von psychotischen Erfahrungen und für das Auslösen von akut psychotischem Erleben, aber auch von erneuten psychotischen Episoden bei anfälligen Personen (Brzozka et al 2009, Brzozka et al 2011, McRae et al.2011). Aufgrund der vielseitigen Studienergebnisse zu dieser Frage wurde bereits 1997 die „Cannabinoid-Hypothese der Entstehung von Schizophrenie“ aufgestellt. Inzwischen belegen zahlreiche Studien, dass eine Psychose als eine durch Cannabis induzierte akute toxische Psychose auftreten kann, aber auch zur Auslösung einer langfristigen psychotischen Erkrankung, einer Schizophrenie-ähnlichen Krankheit oder zu Schizophrenie selber führen kann.

Eine Kohorten-Studie (1970–1996) an 50.000 schwedischen Männern im Alter von 18–20 Jahren zeigte, dass diejenigen, die vor dem 18. Lebensjahr mehr als 50-mal Cannabis konsumiert hatten, ein bis zu 6,7-fach erhöhtes Risiko einer Erkrankung an Schizophrenie aufwiesen (Zammit et al 2002). Bei Patienten, die Cannabis konsumiert haben, kam es durchschnittlich 6,9 Jahre früher zum Ausbruch der Krankheit als bei den Patienten, die keinen Cannabiskonsum aufwiesen (Veen et al. 2004). Auch andere Studien liefern einen Beleg dafür, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und dem Alter des Ausbruches der ersten psychotischen Episode der Schizophrenie zu geben scheint (Bhavsar 2015). Je jünger der Cannabiskonsument ist, desto größer ist die Vulnerabilität für Abhängigkeits- und psychotische Erkrankungen, wie tierexperimentelle und klinische Untersuchungen von Patienten zeigen. Weitere spezifische Risikofaktoren außer besonders jungem Alter und einer positiven familiären Anamnese bezogen auf Suchterkrankungen und andere psychische Erkrankungen sind noch nicht bekannt, sodass nicht vorhersehbar ist, wer nach Cannabiskonsum ein besonders hohes Erkrankungsrisiko trägt. Die einzelnen biologischen Ursachen einer klinisch plausiblen kausalen Verbindung zwischen Cannabiskonsum, Cannabisabhängigkeit und einer langfristigen psychotischen Erkrankung, wie der Schizophrenie, sind im Detail noch nicht aufgeklärt. Ob Cannabiskonsum Psychosen z. B. schizophrener Art und Verlaufsform bei Menschen auslösen kann, die ohne Cannabiskonsum nicht erkrankt wären, ist nicht abschließend geklärt. Dies ist unabhängig von den akuten psychotischen Wirkungen einer Cannabisintoxikation zu diskutieren. Gegenwärtig werden u. a. Veränderungen in der Ausschüttung der körpereigenen Endocannabinoide sowie den Cannabinoid-Bindungsstellen im Gehirn und ihrer Regulation durch genetische und Umweltfaktoren eine wichtige Bedeutung zugesprochen (van Winkel und Küpper 2014). 

Cannabiskonsum und weitere psychische Erkrankungen

Zwischen 50 % und 90 % aller cannabisabhängigen Personen hat eine lebensgeschichtliche Diagnose einer weiteren psychischen Störung. Neben psychotischen Erkrankungen sind dies affektive Erkrankungen mit und ohne Suizidalität, Angst- und Persönlichkeitsstörungen beziehungsweise eine gesundheitlichen Störung durch Alkohol- und anderen Substanzkonsum (Hoch et al., 2015). Viele Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) konsumieren Cannabis. Es scheint einen Zusammenhang von Cannabisabhängigkeit und Schwere der PTBS-Symptome zu geben (Bordieri et al. 2014), wobei hier Cannabiskonsum möglicherweise ein Vermeidungsverhalten darstellt und einen negativen Effekt auf den Therapieerfolg zeigt (Wilkinson et al. 2015). Einige Studien legen einen positiven Zusammenhang von Cannabiskonsum und bipolaren Störungen, beziehungsweise von vermehrt manischen Symptomen und Cannabiskonsum nahe. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Cannabis gebrauchen, wurde ein erhöhtes Auftreten von suizidalen Gedanken beschrieben. Die Studienlage ist jedoch heterogen, daher konnte bisher weder eine klare Aussage zur Höhe des Risikos für Suizidalität gemacht, noch konnte durchgehend ein kausaler Zusammenhang belegt werden. Bei bipolaren Störungen ist ein begleitender Cannabiskonsum mit schlechterem Verlauf, schlechterer Adhärenz, erhöhtem Suizidrisiko und vermindertem Ansprechen auf Lithium verbunden. Epidemiologische Untersuchungen ergaben außerdem ein 2,5- bis 6-fach erhöhtes Risiko für Angststörungen bei Cannabisabhängigen.

Eine holländische Metaanalyse von 29 Studien an Suchtpatienten (van Emmerik-van Oortmerssen et al. 2012) zeigte, dass in der Gruppe der Patienten mit cannabisbezogenen Störungen (Missbrauch und Abhängigkeit) zu etwa 40 % der Probanden ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) aufwiesen. Ferner zeigen Jugendliche und junge Erwachsene mit Suchterkrankungen und ADHS einen signifikant höheren primären Abusus von Stimulantien von 30,3 % (12,6 % ohne ADHS) und von Cannabis von 17 % (9,7 % ohne ADHS) sowie einen signifikant niedrigeren Abusus von Alkohol von 35,2 % (versus 58,8 % ohne ADHS) (van Emmerik-van Oorthmerssen et al. 2014). Diese Komorbiditäten verstärken die Symptome des ADHS wie Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität und Impulsivität deutlich und sind mit vielen klinischen und psychosozialen Konsequenzen verbunden (z. B. Zulauf et al. 2014, Estévez et al. 2015).

Behandlung von Cannabisstörungen und Komorbidität

Cannabis ist aktuell der häufigste Anlass für eine erstmalige Drogentherapie. Noch nie war die Zahl der Behandlungen aufgrund von Cannabisstörungen in Europa so hoch wie jetzt. Grundsätzlich gibt es in Deutschland ein differenziertes Suchthilfesystem zur Behandlung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen (Leune 2014). Cannabisabhängige werden jedoch durch die bisherigen Angebote sehr schlecht erreicht. In der neuen Cannabis-Expertise der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) zeigte eine EU-weite Hochrechnung, dass hinsichtlich der Behandlungsquoten von Menschen mit täglichem Konsum beträchtliche Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedsstaaten bestehen (Schettino et al 2015, S. 58).

Für die große Gruppe der Patienten mit Cannabisabhängigkeit und komorbiden Störungen gibt es praktisch keine adäquaten Behandlungsansätze, die für die verschiedenen Störungen gleichzeitig effektiv sind (siehe z. B. McRae-Clark et al 2010).

Kriminalisierung des Konsums aus medizinischer Sicht

Einer der grundsätzlichen Streitpunkte in der Legalisierungsdebatte betrifft die Frage, ob eine Liberalisierung des Freizeitkonsums von Cannabis zu einer erhöhten Prävalenz von Konsum, und in der Folge zu Missbrauch und Abhängigkeit, führen würde. Bezüglich des Freizeitkonsums von Cannabis konnten in anderen europäischen Staaten keine eindeutigen Effekte auf die Konsumprävalenz durch Änderungen des Strafrechts oder seiner Anwendung belegt werden (Korf 2002; Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, 2011). In einer aktuellen Studie in der Zeitschrift Lancet wurde in 23 Bundesstaaten der USA untersucht, ob die rechtliche Einführung von Cannabis zum medizinischen Konsum den Cannabiskonsum in der Bevölkerung verändert (Hasin et al. 2015). Die Daten zeigen eindeutig, dass insgesamt der Cannabiskonsum von Adoleszenten in allen Bundesstaaten, die bis 2014 Cannabis zum medizinischen Konsum legalisiert hatten, signifikant höher war als in den Staaten ohne eine derartige Einführung. Allerdings waren die Raten auch schon vor der Legalisierung in diesen Staaten höher und es konnte daher kein direkter Effekt der Gesetzesänderung auf die Prävalenz des Cannabiskonsums Adoleszenter gefunden werden. Die Daten der Studie weisen darauf hin, dass der Cannabiskonsum wie auch die Verabschiedung von Gesetzen zum medizinischen Gebrauch von Cannabis offensichtlich von anderen komplexen gesellschaftlichen Faktoren der verschiedenen Länder abzuhängen scheinen. Hierzu ist weitere Forschung unabdingbar.

Aus medizinischer Sicht kann eine strafrechtliche Verfolgung von Cannabiskonsumenten eine zusätzliche psychosoziale Belastung bedeuten, die zu weiterer Destabilisierung der Betroffenen beitragen kann, andererseits kann der Kontakt mit der Justiz auch die Chance für eine Kontaktaufnahme mit den Betroffenen bieten. In diesem Fall können Hilfen angeboten und die Motivation zur Verhaltensänderung gefördert werden. Ein bedeutsamer Teil der Patienten mit cannabisbezogenen Störungen gelangt auf diesem Weg in das (psychiatrische) Suchthilfesystem zu Frühinterventionsangeboten oder auch zur längerfristigen psychiatrischen Behandlung.

Zusammenfassung

Zum aktuellen Zeitpunkt ist Cannabis, verglichen mit den Konsumraten von Alkohol und Tabak, keine Alltagsdroge in Deutschland. Die aktuellen BZgA-Daten zeigen jedoch eine Zunahme der Prävalenz des Cannabiskonsums bei Jugendlichen, jeder sechste 18–20-jährige konsumiert Cannabis im Laufe eines Jahres. Adoleszente sind aufgrund ihrer sensiblen Hirnentwicklung besonders gefährdet für die Risiken des Cannabiskonsums. Die Gesamtzahl der Suchtbehandlungen aufgrund von Cannabiskonsum nimmt in Europa und den USA zu. Dies gilt nach Expertenmeinung von psychiatrisch tätigen Klinikern auch für Deutschland. Aus psychiatrischer Sicht kann Cannabis auf der Grundlage unbekannter individueller genetischer Dispositionen diverse individuell unterschiedliche psychische Symptome wie Ängste, Depressionen, kognitive Störungen oder Wahnvorstellungen bis hin zur vollen Ausprägung psychiatrischer Erkrankungen, wie Manien oder eine psychotische Erkrankung wie die der Schizophrenie, auslösen.

Hierin unterscheidet sich Cannabis deutlich von den sicherlich ansonsten stärkeren multiplen toxischen Wirkungen des Alkohols. Hieraus ergibt sich auch die hohe psychische Komorbidität der Cannabiskonsumstörungen nicht nur mit Angststörungen und depressiven Störungen, sondern auch mit psychotischen Störungen. Darüber hinaus sind der Cannabiskonsum und die Cannabisabhängigkeiten nicht selten mit dem Konsum oder der Abhängigkeit von anderen Substanzen, wie Alkohol und Rauchen oder anderen Substanzen verbunden. Die Auswirkungen dieser Mehrfachabhängigkeiten insbesondere auch auf die psychischen Störungen sind nur wenig untersucht. Im Falle von gleichzeitigem Konsum von Alkohol und Cannabis kann sich das Risiko einer Leberzirrhose um ein Vielfaches erhöhen. Für die große Gruppe der Patienten mit Cannabis und komorbiden Störungen gibt es praktisch keine adäquaten Behandlungsansätze. Für die DGPPN ergibt sich aus ärztlich-psychiatrischer Sicht die dringende medizinethische Konsequenz der Reduktion von Angebot und Nachfrage von Cannabis. Es gibt keine wissenschaftlichen Daten, inwiefern dies durch eine Legalisierung von Cannabis erreicht werden könnte und gleichzeitig der Jugendschutz effektiv ist. Eine Verschränkung von Maßnahmen der Angebotsreduzierung mit verhaltens- und ausstiegsorientierten Maßnahmen im Sinne des Mehrsäulenkonzepts – Angebotsreduzierung, Prävention, Hilfestellung, Schadensminimierung – ist sinnvoll. Die Behandlungsansätze für Patienten mit komorbiden cannabisbezogenen psychischen Störungen müssen entwickelt werden.

Auf Basis der zusammengestellten Evidenzen fordert die DGPPN dazu auf, die beträchtlichen gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums ernst zu nehmen und nicht zu bagatellisieren. Gleichzeitig müssen geeignete Maßnahmen zur Reduktion von Angebot und Nachfrage von Cannabis getroffen werden und ausreichend Mittel und Strukturen für Forschung, Therapie und Prävention bereitgestellt werden, insbesondere für

  • verbesserte Screening- und Diagnoseverfahren,
  • die Erforschung der Daten der ambulanten und stationären psychiatrischen Behandlungen von cannabisbezogenen Störungen zu Lasten der Krankenkassen in Ergänzung zum Kerndatensatz der Suchthilfe,
  • die Erforschung der Bedeutung rechtlicher Maßnahmen für Cannabiskonsum und Therapie cannabisbezogener Störungen,
  • die Forschung zur Ursache, Behandlung und Gesundheitsökonomie cannabisbezogener Störungen, insbesondere auch für die psychisch komorbiden Cannabisstörungen (pharmakologisch, psychiatrisch, psychotherapeutisch) und
  • die Prävention des Cannabiskonsums.

 

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