12.10.2015 | Stellungnahme

Öffentliche Anhörung: „Suizidprävention“

Die DGPPN nimmt zum oben angeführten Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink et al. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit dem Titel „Suizidprävention verbessern und Menschen in Krisen unterstützen“ vom 10. Juni 2015 (Deutscher Bundestag 18. Wahlperiode, Drucksache 18/5104) wie folgt Stellung:

Suizidprävention und notfallpsychiatrische Krisenintervention bei suizidalen Krisen aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht

Suizidalität (Todeswünsche und Suizidideen, Äußerungen von Suizidabsichten, Suizidversuche, Versterben durch Suizid) ist grundsätzlich eine menschliche Verhaltensmöglichkeit, die jedoch in Zeiten psychischer Erkrankung mit subjektiv erlebter Hoffnungs- und Hilflosigkeit und in psychosozialen Notsituationen – z. B. bei existentieller Bedrohung durch wirtschaftliche Not, bei Arbeitslosigkeit und bei psychosozialer Entwurzelung, bei Beziehungsverlust und Vereinsamung – näher rückt. Psychiater, Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten kennen diese Situationen aus der Alltagsversorgung psychisch kranker Menschen. Andere Ansprechpartner für Menschen in suizidalen Krisen sind Kriseninterventionseinrichtungen (z. B. „Arbeitskreise Leben“ in Baden-Württemberg, „Die Arche“ in München, das ehemalige „Therapiezentrum für Suizidgefährdete“ in Hamburg, die Ambulanz für Suizidgefährdete an der Universität Dresden u. a.).

Für die Psychiatrie und Psychotherapie ist Suizidalität heute ein „psychiatrischer Notfall“, Suizidalität gilt als Ausdruck aktueller psychischer Not und Hilfsbedürftigkeit („Medizinisch-psychosoziales Paradigma“ von Suizidalität) und Suizidprävention sowie notfallpsychiatrische Hilfen in suizidalen Krisen sind Kernaufgaben von Psychiatrie und Psychotherapie. Dabei kann Suizidalität bei allen Menschen auftreten, am häufigsten jedoch in psychosozialen Krisen und bei psychischer Erkrankung. Von daher sind Psychiatrie und Psychotherapie und ihre entsprechenden Versorgungseinrichtungen im ambulanten (Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten) und stationären Bereich (Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie mit ihren jeweiligen Psychiatrischen Institutsambulanzen) neben der hausärztlichen Primärversorgung häufigste Ansprechpartner im Umgang und in der Behandlung von Menschen mit akuter Suizidalität.

Die Suizidrate (auf 100.000 Einwohner pro Jahr) und -zahl hat in Deutschland deutlich abgenommen: von insgesamt 13.9024 Suiziden (Männer 9.534, Frauen 4.390) und einer Suizidrate von 17,5 (Männer 24,9, Frauen 10,7) im Jahre 1990 auf 10.076 Suizide (Männer 7.449, Frauen 2.627) und einer Suizidrate von 12,5 (Männer 18,9, Frauen 6,4) im Jahre 2013. Gründe hierfür mögen vor allem Awareness- und Antistigma-Programme zu Depression und Suizidalität (z. B. Bündnisse gegen Depression wie „600 Leben“, regionale Initiativen wie „Gemeinsam gegen Depression Bayreuth“ u. a.) sein, zumal das Thema Suizidalität heute Standard psychiatrisch-psychosozialer und psychotherapeutisch-psychosomatischer Aus- und Weiterbildung ist. Ein weiterer Grund mag die Zunahme der Kriseninterventionseinrichtungen, der Telefonseelsorge und auch Organisationen wie z. B. AGUS („Angehörige um Suizid“, Fürsorge für die Hinterbliebenen nach Verlust eines Angehörigen durch Selbsttötung) sein. Auch für den niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist Suizidalität inzwischen ein Thema, das standardmäßig bei psychisch kranken Menschen abgeklärt werden muss.

Als Risikogruppen für Suizidalität (Gruppen von Menschen, die eine deutlich höhere Suizidrate als die Allgemeinbevölkerung aufweisen) gelten psychisch kranke Menschen, hier schwer depressiv Kranke (z. B. der verwitwete und vereinsamte alte depressiv kranke Mann, der zudem zu viel trinkt oder die schwer depressive Mutter mit Postpartumdepression mit Suizidideen) oder junge schizophren kranke Patienten (z. B. der schizophren erkrankte Student, dessen Leistungsprofil kognitiv völlig zusammengebrochen ist). Auch Menschen, die bereits suizidale Krisen in ihrer bisherigen Lebensgeschichte hatten, weisen ein erhöhtes suizidales Risiko auf. Hinzu kommen homosexuelle und transsexuelle Menschen, Migranten und Flüchtlinge, bei denen Suizidalität auch als fokussierter Ausdruck einer bedrohten Lebenssituation gedeutet werden kann, dann alte Männer, verwitwet und vereinsamt, evtl. körperlich krank oder auch Menschen in akuten schwierigen psychosozialen Lebenssituationen, die mit einer existentiell bedrohlichen Finanzlage, einer bedrohten Arbeitssituation u. ä. einhergehen.

Zur Versorgung von suizidgefährdeten Menschen stehen aktuell zum einen niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zur Verfügung, zum anderen die Hausärzte/Familienärzte (Fachärzte für Allgemeinmedizin) sowie Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten und Mitarbeiter in Kriseninterventions- und Beratungsstellen, wobei es sich meist um spezialisierte sozialpädagogisch und psychotherapeutisch ausgebildete Mitarbeiter handelt.

Nach heutigem Forschungsstand litten nahezu 90 % aller durch Suizid Verstorbenen an einer psychischen Erkrankung. Im depressiven Erleben von Hoffnungslosigkeit und Wertlosigkeit und der Sorge um einen Autonomieverlust vor dem Hintergrund einer möglicherweise lebenslang einschränkenden psychischen oder somatischen Erkrankung (z. B. bei einer schizophrenen Psychose oder im Beginn einer dementiellen Störung) geraten Ideen hinsichtlich der vorzeitigen Beendigung des eigenen Lebens und der Sorge um die Belastung der Angehörigen in den Fokus des Denkens von Betroffenen. Hier muss Suizidprävention als Mental Health-Auftrag des medizinisch-psychosozialen Versorgungssystems und als Public Health-Verpflichtung der Gesundheitspolitik und Fürsorge ansetzen. Dies ist äußerst relevant auch im Kontext der gesellschaftlichen und politischen Debatten um den (ärztlich) assistierten Suizid (siehe Stellungnahme der DGPPN vom 16. September 2015):

Die DGPPN fordert deshalb:

  • Die Verbesserung und Förderung adäquater diagnostischer und therapeutischer psychiatrischer und anderweitiger therapeutischer Ansätze in der Behandlung suizidaler Patienten
  • Die Verbesserung der Kontrolle toxischer Substanzen insbesondere von Medikamenten aus dem Psychopharmakabereich
  • Die Medienarbeit mit dem Ziel der Vermeidung der Darstellung von Suizidmethoden in den Medien und Hinweis auf ein Verständnis von Suizidalität als Ausdruck von Notsituation
  • Die Entgiftung von Autoabgasen

Auf der personenbezogenen Ebene (Mental-Health-Ansatz):

  • Die Identifizierung von Menschen mit erhöhtem suizidalen Risiko (z. B. depressiv kranke, alte Männer, Menschen nach Suizidversuch, Menschen mit chronischen schmerzhaften beeinträchtigenden Erkrankungen)
  • Die Durchführung von Awareness-Programmen zur Erkennung und Behandlung von Menschen mit erhöhtem suizidalen Risiko
  • Die Verbesserung der Diagnostik von Suizidalität in der hausärztlichen, fachärztlichen, psychologischen, sozialpädagogischen sowie theologischen Versorgung
  • Die Verbesserung der psychotherapeutischen Ansätze, auch in der Langzeitbehandlung bei Suizidalität bzw. psychischer Erkrankung und Suizidalität

Dabei geht es in der personenbezogenen Suizidprävention natürlich auch um die Symptombehandlung einer möglicherweise zugrunde liegenden Erkrankung wie Depression oder Schizophrenie, um die Förderung von eigenen Wertgefühl auch in der Erkrankung, um Entlastung und Fürsorge auch für Angehörige, um die Vermeidung pseudoaltruistischer Überlegungen und um adäquate therapeutische Planung.

Damit fokussiert die Forderung an die Gesundheitspolitik einmal in Richtung Verbesserung der Awareness, einhergehend mit der Schaffung niederschwelliger Anlaufstellen für Menschen in Krisen und schwierigen Lebenssituationen (Förderung von Kriseninterventionseinrichtungen, Ausbau der Psychiatrischen Institutsambulanzen), und weiterer Verbesserung des Wissensstandes zum Thema Suizidalität. In der direkten Patientenbeziehung geht es um die Verbesserung des diagnostischen Procederes und des Managements insbesondere bei den bekannten Risikogruppen schwer Depressive, junge Schizophrene, homosexuelle und transsexuelle Menschen, Migranten und Asylanten, alte Männer, Menschen in Gefängnissituationen, Menschen mit schweren, therapieresistenten unheilbaren und schmerzhaften körperlichen und körperlich-psychischen Erkrankungen.

Eine weitere wichtige Forderung an die Gesundheitspolitik und Fürsorge ist die Verhinderung des Zugangs zu Suizidmitteln und -hotspots, z. B. durch Verschalung von Brücken, von Eisenbahnlinien, von Türmen, die jeweils als Suizidmethode verwendet werden können. Des Weiteren, und hier wird auch von Seiten der DGPPN ein großer Auftrag gesehen, gibt es derzeit in Deutschland nur an sehr wenigen Stellen eine ausgewiesene Forschung in der Suizidologie. In den 1960er und 1970er Jahren war deutsche Suizidforschung weltweit führend, heute ist es die amerikanische. An den deutschen Universitäten gibt es kaum mehr primär suizidologische Forschungsthemen. Hier ist die suizidologische Forschung durch die Förderung entsprechender Projekte zu verbessern und voranzutreiben.

Zu den einzelnen Punkten im Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ad 1    Auch die DGPPN ist der Ansicht, dass Awareness-Kampagnen in Deutschland in erster Linie als Präventionsansätze notwendig sind. Da die häufigste Suizidmethode in Deutschland das Sich-Erhängen ist und die meisten Menschen solche Suizidmöglichkeiten mit sich herumtragen (Schnürsenkel, Hosengürtel), kann umfassende Prävention nicht durch Verbot einer Suizidmethode (z. B. Waffengesetze), sondern nur durch verbesserte und breite Information geschehen.

Ad 2    Dass Gesundheitsförderung vor allem in der Alltagswelt liegen muss, ist offensichtlich.

Ad 3    Suizidpräventive Beratungs- und Unterstützungsangebote sind in Deutschland weiter auszubauen bzw. zu fördern und zu sichern, wobei es zum einen um die Krisenintervention in bereits vorhandenen und bekannten Suizidpräventionseinrichtungen geht (z. B. „Arbeitskreise Leben“, „Die Arche“ in München u. ä.). Anderseits geht es um die Möglichkeit einer rascheren Inanspruchnahme von ambulanter fachärztlicher und fachpsychologischer suizidpräventiver Kompetenz bei niedergelassenen Ärzten und Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten und auch ein rascher Zugang zu den Psychiatrischen Institutsambulanzen der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Des Weiteren sollten Unterstützungsangebote für Angehörige, die in ihrem familiären Umfeld oder in der direkten partnerschaftlichen Beziehung einen Suizid erleben mussten, stärker gefördert werden. Hier wäre auf AGUS Deutschland als Modell zu verweisen, ein Selbsthilfeansatz, der sich in den letzten 20 Jahren in Deutschland bewährt hat.

Ad 4    Gerade in suizidalen Krisen ist ein rascher (manchmal sofortiger) Zugang zu Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie, zu Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten zu sichern; ein akut suizidgefährdeter Mensch bedarf der akuten notfallpsychiatrischen Krisenintervention und kann nicht Tage und Wochen warten. Hier sind in die Krisenintervention auch die jeweiligen Psychiatrischen Institutsambulanzen einzubeziehen.

Ad 5    Spezielle Beratungs- und Behandlungsangebote sind zu überlegen, wobei die im Antrag genannten Gruppen, z. B. ältere Menschen (hier vor allem ältere vereinsamte und verwitwete Männer), dann Schülerinnen und Schüler, aber auch Studentinnen und Studenten zu Beginn ihres Studiums an den Universitäten, homosexuelle und trans- intersexuelle Menschen sowie Menschen mit Migrationshintergrund der besonderen Berücksichtigung bedürfen.

Ad 6    Auch aus Sicht der DGPPN müssen die Themen Suizidalität und Suizidprävention standardmäßig Bestandteil von Aus-, Fort- und Weiterbildung in allen Gesundheits- und Sozialberufen sein. Sie sind in allen Berufen, die mit Menschen zu tun haben, und in den Ausbildungs- und Fortbildungsprogrammen verbindlich zu berücksichtigen. 

Ad 7    Der Zugang zu Suizidmethoden (vor allem Arzneimitteln, die für Intoxikationen verwendet werden können) und der Zugang zu so genannten Hotspots (Orte, die besonders gern als Ausgangspunkt bzw. Suizidmittel verwendet werden wie Brücken, Kirchtürme, Hochhäuser) müssen routinemäßig und bereits bei Bau durch suizidpräventive Überlegungen verhindert werden.

Ad 8    Eine Suizidforschung muss in Deutschland neu entwickelt, finanziert und gefördert werden. Die Einbeziehung von suizidologischen Fragestellungen in Forschungsprogramme ist zu befürworten. 
 

Abschlussbemerkung

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) betrachtet Suizidalität als Ausdruck einer psychiatrischen Notsituation im Kontext von psychischer Erkrankung bzw. psychosozialer Krisensituation. Deswegen, und auch weil die meisten suizidalen Handlungen im Kontext psychischer Erkrankungen stattfinden, sind Psychiatrie und Psychotherapie aufgefordert, sich gerade den suizidologischen und suizidpräventiven Fragestellungen zu widmen. Die Bemühungen der DGPPN in diesem Bereich werden deutlich in der Einrichtung eines Referates Suizidologie vor mehreren Jahren, welches sich speziell mit solchen Fragen beschäftigt. Hier ist aus Sicht der DGPPN die weitere ideelle, vor allem aber auch materielle und konzeptuelle Förderung von Suizidprävention, von suizidpräventiven Einrichtungen und Suizidforschung zu fordern.

Für die DGPPN

Prof. Dr. med. Dr. h. c. (Stradins Universität Riga, Lettland) Manfred Wolfersdorf, Bayreuth, Leiter Referat „Suizidologie“ der DGPPN
Dr. med. Ute Lewitzka, Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Gustav-Carus-Universität Dresden, Leiterin Suizidforschung Dresden, Mitglied des Referates „Suizidologie“ der DGPPN

 

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